Paul Ostwald studiert in Oxford – an derselben Uni, an der Großbritanniens Regierungschef David Cameron und andere Top-Politiker waren. Er berichtet regelmäßig aus England über das Leben auf der Insel und der bevorstehenden Abstimmung über den Brexit. (= Britain + Exit = Austritt von Großbritannien aus der Europäischen Union) Der Brexit aus Sicht von Großbritannien Annie zittert, ihre Stimme bebt als sie mit zwei großen Schritten ins Scheinwerferlicht der Oxford Union tritt. Annie steht im Mittelpunkt des berühmtesten Debattierclubs der Welt. „Ich werde Sie heute davon überzeugen, dass Großbritannien in der EU bleiben sollte“, setzt sie an. Zwischenrufe, irgendjemand schwenkt die britische Flagge. Annie macht unbeirrt weiter und am Ende kann sie überzeugen: Oxfords Studenten stimmen nach dieser Debatte gegen den „Brexit“. 80 Prozent sind in einer Umfrage für die Europäische Staatengemeinschaft. Am 23. Juni stimmen die Briten ab Am 23. Juni stimmen aber alle Bürger Großbritanniens darüber ab, ob ihr Land weiterhin in der Europäischen Union bleiben soll oder nicht. Am meisten, so hat Premierminister David Cameron auch schon festgestellt, trifft diese Entscheidung die Zukunft von 15 Million Jugendlichen. Wer wissen will, wie vielfältig die britische Jugend über den „Brexit“ denkt, der muss nach Oxford schauen, denn nirgendwo im Land ist die Stimmung so geteilt wie hier. Es ist 8 Uhr morgens am Tag nach der Debatte. Annie ist glücklich, vielleicht hat ihre Rede ein paar Studenten vom „Brexit“ abgebracht. Wir schlendern gemeinsam durch Oxfords altertümliche Innenstadt bis zu einem kleinen französischen Café, dem „Maison Blanc“. „Zwei pain au chocolat bitte“, bestellt Annie. Sie wird immer leiser, wenn sie das ausspricht: pain au chocolat. Ein bisschen, als ob auch die europäische Stimme immer leiser würde. „Die europäische Union ist nicht mehr nur eine Wirtschaftsunion, aber das wollen die auf der anderen Seite nicht verstehen“, sagt Annie. Es geht auch um die Gemeinschaft der Menschen. Für Annie ist klar: Großbritannien muss in der EU bleiben. Harrison denkt da anders, er ist Vorsitzender der Oxforder konservativen Studentenschaft und damit der größten politischen Hochschulgruppe des Landes. Er wird am 23. Juni für einen Austritt stimmen. Wir sind um 10 Uhr bei ihm zum Brunch verabredet. „Bloody early for brunch“, sagt er als er mich im Morgenmantel begrüßt. Auf der Teetasse in seinen Händen schwebt ein verblichenes, nacktes königliches Baby. Schon wieder gibt es pain au chocolat, aber hier bei ihm heißt das „pastry“. „Vor fünfzig Jahren waren wir ein Königreich, jetzt werden wir von einer anderen Hauptstadt aus regiert“. Brüssel meint er, den Sitz der Europäischen Union. Dann fügt er hinzu: „Ich war nie Europäer, ich bin Brite“. „I’m British, not European!“ Der Geschichtsstudent Harrison ist mit dieser Einstellung nicht allein. Egal, ob politisch eher links oder rechts: Immer wieder höre ich „I’m British, not European!“, „Ich bin Brite, nicht Europäer!“. Teil der europäischen Kultur ist man nicht wirklich. Gutes Essen, Kaffee und eventuell noch Bier nimmt man gerne an – solange es nicht den Vier-Uhr-Tee stört. Wenn Großbritannien Ende Juni Teil der EU bleibt, hat Harrison erstmal verloren. Er würde das akzeptieren, aufgeben würde er aber nicht: „Wenn Brüssel anfängt, uns den Talar zu maßregeln, dann tritt Oxford alleine aus der EU aus“. Für die meisten Studenten hier sind die wirtschaftlichen Argumente zweitrangig. Es geht darum, ob man Teil einer kulturellen und politischen Union sein will – trotz der Probleme, die das mit sich bringt: Flüchtlingsunterbringung, Bankenrettung, Kommandos aus Brüssel und Terrorismus. „Ich glaube, das ist es wert und den Problemen werden wir uns drinnen oder draußen stellen müssen“, sagt Annie. Und sie hofft, dass ihre Landsleute das am 23. Juni auch so sehen. Link zum Originalartikel