Keine Abschiebung von Flüchtlingen – Krank, abgetaucht, Pass verloren

Mehr als 200.000 Ausländer müssen Deutschland verlassen. Es passiert aber nichts. Woran liegt es, dass es keine Abschiebung von Flüchtlingen gibt? Wir haben recherchiert.

Über 200.000 Flüchtlinge müssen Deutschland wieder verlassen. Doch dies geschieht nicht. Viele abgelehnte Asylbewerber wollen nicht zurück, und es ist oft äußerst schwer, sie gegen ihren Willen abzuschieben. Laut dem Bundesinnenministerium hielten sich Ende November 2015 hierzulande 201.402 zur Ausreise verpflichteten Flüchtlinge auf. Zurückgeschickt wurden im vergangenen Jahr aber nur 21.640. Das sind weniger als elf Prozent.

Keine Abschiebung von Flüchtlingen

Laut offizieller Seite wurden einige Abschiebungshürden mittlerweile beseitigt, weitere sollen mit dem soeben vom Kabinett beschlossenen Asylpaket 2 weichen. Doch die Experten sagen, fünf Hindernisse stünden nach wie vor einer zügigen Rückführung im Weg. Im folgenden Text findet ihr die Hindernisse, warum keine Abschiebung von Flüchtlingen stattfindet.

Der fehlende Abschiebewille

Abschiebungen sind sehr hart und menschlich oft schwer erträglich. Medien und Menschenrechtsvereine berichten immer wieder von erschütternden Szenen, wenn plötzlich die Polizei vor der Tür steht. Der Bericht „Vollzugsdefizite“ beklagt ein „gesellschaftliches Klima der Ächtung und Ablehnung“ von Abschiebungen. Darum würden die Bundesländer nur zögerlich von ihnen Gebrauch machen. Bremen schickte nach eigenen Angaben im vergangenen Jahr nur jeden 113. Ausreisepflichtigen zurück, Nordrhein-Westfalen jeden 14., Bayern hingegen jeden vierten. Die meisten Bundesländer machen aber so gut wie keine Abschiebung von Flüchtlingen mehr. Der Bericht bemängelt „das Auseinanderfallen der Praxis aufgrund landesinterner Vorgaben“ und schlägt einheitliche Regeln vor.

Ärztliche Atteste

Viele Ausreisepflichtige legen, wenn die Polizei erscheint, ein ärztliches Attest vor, das ihre Reiseunfähigkeit bestätigt. Die Experten sagen, manche Atteste würden auf Vorrat beschafft und erst in letzter Minute vorgezeigt, weil die Chancen so am höchsten seien, einer Abschiebung zu entgehen. Eine im Bericht „Vollzugsdefizite“ aufgeführte Studie aus Nordrhein-Westfalen zeigt für das Jahr 2011: In 74 von 184 untersuchten Fällen legten Ausländer ein Attest erst vor, als der Abschiebetermin bereits feststand und der Flug gebucht war. 129 Mal wurde eine psychische Erkrankung geltend gemacht, in der Regel eine posttraumatische Belastungsstörung.

Das Asylpaket 2 soll einem Missbrauch ärztlicher Bescheinigungen stärker vorbeugen, doch was am Ende tatsächlich im Gesetz stehen wird, ist unklar. Aus Sicht der Experten sollten 3 Dinge geregelt werden: Ausreisepflichtige müssten die für eine Abschiebung zuständige Ausländerbehörde unverzüglich über eine Erkrankung informieren. Zweitens dürften nur schwerwiegende Erkrankungen eine Rückführung aufschieben. Drittens müsse der Arzt eine klare Diagnose formulieren und ausführlich begründen, warum keine Reisefähigkeit bestehe.

Untertauchen

Im vergangenen Jahr besaßen laut Bundesinnenministerium drei Viertel der zur Ausreise verpflichteten Personen eine Duldung. Sie wird befristet erteilt, etwa wenn jemand erkrankt ist oder keinen Pass hat. Die übrigen 50.000 verschwanden spurlos. Mit anderen Worten: Sie sind entweder untergetaucht oder verließen Deutschland freiwillig, ohne dies der Ausländerbehörde mitzuteilen. Experten berichten von Beispielen, wo plötzlich ein Kind fehlt, wenn die gesamte Familie Deutschland verlassen soll. „Das Kind kommt zu einem Onkel oder einer Tante, das ist ein Klassiker, um seine Abschiebung zu verhindern.“ Sie beklagen außerdem, dass es im Internet viele Anleitungen dafür gebe, wie Rückführungen am besten zu verhindern seien. Dazu zähle auch der Ratschlag, kurz vor dem Abflug in der Maschine Randale zu machen, weil sich dann der Flugkapitän vielleicht weigere, den gewalttätigen Passagier mitzunehmen.

Keine Pässe

Fehlende Papiere ist ein häufiger Grund dafür, dass keine Abschiebung von Flüchtlingen stattfindet. Stichproben haben ergeben, dass vier von fünf Asylbewerbern, die nicht aus Syrien, dem Irak oder einem sicheren Herkunftsland stammen, ohne gültige Identitätsdokumente einreisen. Gegenwärtig sind zum Beispiel mehr als 8.000 Nordafrikaner in Deutschland ausreisepflichtig, können aber mangels eines Ausweises nicht zurückgeschickt werden.

Die Beschaffung von Passersatzpapieren ist langwierig und schwierig, außerdem mangelt es an Sprachanalytikern, die feststellen können, ob ein Afrikaner etwa aus Togo oder Nigeria stammt. „Weder der Ausländer noch der Herkunftsstaat haben ein Interesse an einer Rückkehr“, sagt einer der Experten. „Der Ausländer will bleiben und arbeiten, sein Staat profitiert von den Geldüberweisungen in die Heimat.“ Im Bundesinnenministerium kursiert inzwischen eine rote Liste von Ländern, die nur widerwillig bei der Aufklärung helfen. Nordafrikanische Staaten stehen weit oben. Experten drängen, endlich größeren politischen und finanziellen Druck auf widerspenstige Staaten auszuüben. „Entwicklungspolitik und innenpolitische Interessen sind zwei Seiten derselben Medaille.“

Zu wenig Personal

Die Ablehnung des Asylantrags obliegt dem BAMF (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge). Für die Abschiebung selbst sind die 566 Ausländerbehörden in Deutschland zuständig. In manchen Ämtern finden sich nur ein oder zwei Beamte für diese Aufgabe. Insgesamt gibt es nach Ansicht der Experten viel zu wenig „Abschieber“. Als Beispiel nennt der Bericht „Vollzugsdefizite“ eine Personalerhebung in den Bundesländern Hessen, Hamburg, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen zwischen 2009 und 2014. Demnach stieg die Zahl der Asylbewerber in diesem Zeitraum um 600 Prozent, die Zahl der Beamten in den Ausländerbehörden blieb jedoch konstant oder wurde verringert.

Quelle: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge

Über Tim Senger

Tim ist Leiter und Chefredakteur von E4SY. 2013 ist er das erste Mal jour­na­lis­tisch für ein Spielemagazin aktiv geworden. Momentan absolviert er zudem ein duales Studium im Bereich Wirtschaft.

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